Vor einem halben Jahr wusste die breite Weltbevölkerung nicht, dass es einen Virus namens COVID-19 gibt. Wir lebten frisch und fröhlich in den Tag hinein und «social distancing» war bisher ein Fremdwort mit einer anderen Bedeutung. Dies hat sich – wie wir leider alle bitter erfahren mussten – in den letzten Monaten deutlich verändert – wir gehen heute anders miteinander um. Zur grossen Erleichterung öffnet sich langsam wieder das öffentliche Leben, auch wenn die Auswirkungen der Coronakrise für die Wirtschaft, für das soziale Gefüge und für die Weltordnung fundamental sein werden und zwar «tektonisch», wie kürzlich jemand im Gespräch mir gegenüber erwähnte.
Die meisten Zeitungen sind voll mit Themen über COVID-19 oder dessen Konsequenzen. Darum möchte ich in diesem Beitrag auf Themen eingehen, die unsere Welt beschäftigen, aber von der Pandemie überschattet wurden.
Gab es da nicht das Thema Klimawandel im letzten Herbst, das nicht nur in der Schweiz, sondern auch europaweit zu einem grossen Aufwind bei den Grünen führte? Das Thema Klimawandel ist nach wie vor aktuell und muss wieder in die Schlagzeilen kommen. Dies, weil durch die Verlangsamung der Wirtschaft plötzlich die Natur neu aufblüht. Das Meereswasser in der Lagune von Venedig ist plötzlich sauber und wenn man Greenpeace Glauben schenkt, dann zeigt sich in China, dass sich die Massnahmen zur Eindämmung der Infektionen massiv auf die Treibhausgasemissionen ausgewirkt haben und weiterhin werden. Sie könnten für eine Einsparung von satten 200 Megatonnen CO2 gesorgt haben, schätzt der Pekinger Thinktank Crea. Demnach sank die Schadstoffbelastung durch Flüge um 37 Prozent, die Produktion von Ölraffinerien nahm um 34 Prozent ab und der Kohleverbrauch von Kraftwerken brach um 36 Prozent ein. Diesen Effekt kann man nicht nur in China, sondern weltweit beobachten. Es gibt noch andere Beispiele, die aufzeigen, dass eine «Entschleunigung» oder anders gesagt, unser Drang nach immer mehr in jeder Beziehung, dem Klima und somit unserer Lebensgrundlage schaden. Die Krise erschwert jedoch auch die Arbeit der Klimaschützer selbst. In Vorbereitung auf die Klimakonferenz im November sind diverse Vorbereitungstreffen geplant, die nun zu platzen drohen.
Ein weiteres Thema, von dem man praktisch nicht mehr spricht, ist der BREXIT. Obwohl die Engländer den BREXIT definitiv beschlossen haben, sind die Verhandlungen mit der EU, welche sehr komplex sind, praktisch zum Erliegen gekommen. Wen interessiert noch der BEXIT? Das Thema ist nicht nur für die Briten, sondern auch für Europa sehr wichtig, doch derzeit kommen die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen nicht vom Fleck. Die EU und das Vereinigte Königreich blockieren sich gegenseitig. Und die nächste Deadline steht bereits an.
Und was war da schon wieder anfangs Jahr? Sprach man nicht von einem möglichen dritten Weltkrieg, weil die Beziehungen zwischen dem Iran und den USA so schlecht waren, dass die amerikanischen Flugzeugträger bereits im Golf aufliefen? Das Verhältnis von Washington und Teheran ist derzeit so schlecht, dass Gespräche über einen Gefangenenaustausch trotz schweizerischer Vermittlung nicht vorankommen. Die beiden verfeindeten Staaten halten eine ganze Reihe von Bürgern des jeweils anderen Landes gefangen, teilweise mit höchst fragwürdiger Begründung. Dieser schwelende Konflikt ist derzeit aus den Schlagzeilen verschwunden, vielleicht auch deshalb, weil beide Länder sehr stark von der Pandemie betroffenen sind.
Anfangs Jahr hat die renommierte Neue Zürcher Zeitung einen Artikel unter dem Titel «22 brennende Fragen, die wir im Jahr 2020 beantwortet haben wollen» veröffentlicht. Wenn man sich diese Fragen zu Gemüte führt, fällt rund die Hälfte weg, weil sie vor dem heutigen Hintergrund völlig irrelevant sind. Die andere Hälfte müsste man wieder aus der Kiste auspacken und darüber berichten und schreiben, weil sie immer noch sehr aktuell ist. Dazu einige Beispiele:
Wird Donald Trump wiedergewählt?
Kommt es in der Schweizer Europapolitik zu einer Einigung mit der EU?
Wird der Handelsstreit zwischen den USA und China beigelegt?
Facebooks Libra: Werden wir im Jahr 2020 schon mit Zuckerbergs digitaler Währung bezahlen können?
Wird erstmals ein Schweineherz auf einen Menschen übertragen?
Fliegen Astronauten wieder mit amerikanischen Raumschiffen zur ISS?
Welchen Kurs schlagen die Notenbanken ein?
Die letzte Frage können wir bereits jetzt beantworten, denn wären die Notenbanken in dieser Krise nicht wieder einmal (wie auch 2008) aktiv geworden und hätten nicht mit grossen Mitteln die Wirtschaft gestützt, wären wir jetzt schon wirtschaftlich in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale, und zwar weltweit.
Doch es gibt auch Themen, die glücklicherweise aus den Nachrichten verschwunden sind und die wir überhaupt nicht vermissen. Dazu gehören sicher die News, wo sich Harry und Meghan mit Baby Archie Mountbatten-Windsor während ihrer Ferien befinden oder ob George und Amal Clooney Probleme mit ihrer Fernbeziehung haben.
Ich muss auch zugeben, dass ich gewisse Anlässe, die abgesagt werden mussten, überhaupt nicht vermisse. Zum Beispiel den European Song Contest oder die unzähligen «Dorf-Turn-Sauglatt-Feste», wie wir sie in Unmengen in der Schweiz haben. Natürlich muss und darf man Spass haben, aber eine Pandemie, wie wir sie jetzt erleben, sollte auch Anlass dazu sein, über einen tieferen Sinn unseres Daseins zu sinnieren und unsere Zukunft zu hinterfragen und daraus resultierend unsere Gewohnheiten zu ändern. Das wären positive Themen, über die ich gerne in den Medien lesen möchte, Corona hin oder her!
Eric G. Sarasin