Ehrliche und neutrale Information durch den Bundesrat?


    von Luzi Stamm


    Bei Volksabstimmungen sind immer beide Standpunkte vertretbar

    (Bild: zVg)

    Selbstverständlich kann man – wie bei jedem politischen Thema – Gründe für oder gegen die Personenfreizügigkeit finden.

    Ebenso selbstverständlich ist, dass Einzelpersonen und / oder Firmen eigene Interessen verfolgen können, ohne dass sie das Gesamt-Interesse berücksichtigen müssen. Konkret heisst das z.B.: Wer einwandern will, braucht sich nicht darum zu kümmern, ob seine Einwanderung für das Land, in welches er zieht, positiv ist oder nicht. Und wer jemanden in die Schweiz holen will, muss sich nicht darum kümmern, ob dies allenfalls für unser Land negative, importierte Folgen hat.

    Unehrliche Argumente im Abstimmungskampf können leider nie verhindert werden
    Dass Befürworter oder Gegner eine Vorlage zu unehrlichen Argumenten greifen, ist leider kaum zu vermeiden. Dass je nach persönlichem Interesse oft auch bewusst gelogen wird, leider ebenfalls nicht.

    Aber ein Bundesrat respektive eine Bundesrätin dürfen sich selbstverständlich keine Fehlaussagen leisten und sie dürften nicht Seite beziehen. Sie vielmehr verpflichtet, die Bevölkerung offen und ehrlich darüber zu informieren, was Sache ist (also im vorliegenden Fall, was die Personenfreizügigkeit rechtlich gesehen bedeutet).

    Personenfreizügigkeit bedeutet Rechtsanspruch auf Einwanderung
    Immer und immer wieder wird – auch von Mitgliedern des Bundesrats – argumentiert «zuwandern darf nur, wer über einen gültigen Arbeitsvertrag verfügt». Das ist schlicht und einfach eine falsche Aussage. Der mit der EU abgeschlossene Personenfreizügigkeits-Vertrag (offizieller Name «Freizügigkeitsabkommen») bedeutet, dass jedermann aus der EU – potentiell also mehr als 500 Millionen Menschen – einen verbrieften Rechtsanspruch erhält, in die Schweiz zu kommen.

    • An dieser Stelle seien die folgenden Fakten aufgelistet (nur einige der vielen unterzeichneten Sachverhalte):
      Wer bis zu drei Monaten als Arbeitnehmer aus der EU in die Schweiz kommen will, braucht überhaupt keine Aufenthaltserlaubnis (Anhang I zum Freizügigkeitsabkommen (FZA) Anhang I, II, Art. 6 Abs. (2)).
    • Jede EU-Bürgerin / jeder EU-Bürger kann in der Schweiz sechs Monate lang Arbeit suchen. Er «hat das Recht», sich in die Schweiz «zu begeben, um sich eine Beschäftigung zu suchen (…) und sich während sechs Monaten dort aufzuhalten» (FZA, Anhang I, I, Art 2 Abs. (1) zweiter Abschnitt).
    • Wer eine Stelle findet, erhält eine Aufenthaltserlaubnis von mindestens fünf Jahren. Er kann selbst dann bleiben, wenn er die Stelle (z.B. wegen Krankheit) nicht antritt (FZA Anhang I, II, Art. 6 Abs. (6).
    • «Grenzgänger benötigen keine Aufenthaltserlaubnis» (FZA, Anhang I, II, Art 7 (2). Grenzgänger ist, wer «einmal in der pro Woche an seinen Wohnort zurückkehrt». Soeben hat eine entsprechende Anfrage im Nationalrat gezeigt, dass diesbezüglich überhaupt keine Statistiken / Kontrollen existieren.
    • Jede Person aus der EU «erhält – auch wenn sie nicht arbeitet / keinen Arbeitsvertrag hat – eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, sofern sie den Nachweis dafür erbringt, dass sie ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss» und krankenversichert ist. (FZA, Anhang I, V, Art 24).
    • Die Bewilligung gilt auch für Ehegatten, Kinder, Enkel, Eltern, Grosseltern (auch des Ehepartners, selbst wenn dieser von ausserhalb der EU stammt); (FZA, Anhang I, I. Art 3 (2), a ⁄ b)
    • Auch alle Studentinnen und Studenten aus der EU können ohne Arbeitsvertrag mit ihrem Ehegatten und ihren Kindern in die Schweiz kommen (FZA, Anhang I, I, Art. 3 Abs. (2) c).
    • Jeder EU-Zuwanderer hat Anspruch auf die Schweizer Sozialleistungen; er erhält Arbeitslosengelder, Invalidenrenten, Krankentaggeld, Ergänzungsleistungen wie jeder Schweizer (Verbot der «Diskriminierung»). Jeder ist sofort nach Schweizer Standards krankenversichert, inklusive seine Familie in seiner Heimat – auch wenn er mit seinem Lohn die Krankenversicherungs-Prämien nicht bezahlen kann (!).
    • Viele Befürworter der Personenfreizügigkeit erwecken den Eindruck, man müsse in der Schweiz ein Jahr gearbeitet haben, um Arbeitslosengeld zu erhalten. Auch das ist falsch. In Tat und Wahrheit können die Zuwanderer (gemäss dem «Totalitätsprinzip») ab dem ersten Tag Arbeitslosengeld beziehen; dies sogar berechnet auf dem Schweizer Lohn, auch wenn der / die Betreffende vorher in der Heimat zu einem Tiefst-Lohn gearbeitet hat (ab dem ersten Tag (!); Bedingung ist nur, dass er in seiner Heimat ein Jahr lang gearbeitet hat).

    Unlösbares Problem der selbständig Erwerbenden
    Das weitaus grösste Problem besteht – neben all den aufgeführten Punkten – darin, dass jedermann als selbständig-Erwerbender in unser Land einwandern kann, vom «Unternehmer im Rotlicht-Milieu» bis zum «Kebab-Stand-Betreiber». Auch Selbständige haben selbstverständlich keinen Arbeitsvertrag. Gemäss der Definition im unterzeichneten Abkommen erhält jedermann aus der EU eine «Aufenthaltserlaubnis von mindestens fünf Jahren, sofern er den Behörden nachweist, dass er sich zu diesem Zweck (gemeint ist als «selbständig-Erwerbender») niederlassen will» (FZA, Anhang I, Art. 12 Abs. (1)).

    Bei Leuten, welche unter diesem Titel einwandern, kann es gar keine Lohnkontrolle geben (auch nicht bei denjenigen, die sich auf die verbriefte «Dienstleistungsfreiheit» berufen). Dass die Probleme der Personenfreizügigkeit angeblich durch «flankierende Massnahmen» gelöst werden können, stimmt ganz einfach nicht, auch wenn viele Gewerkschafter dies behaupten.

    Man halte ich das folgende Beispiel vor Augen: Ein Dachdecker aus der EU übernimmt den Auftrag, für einen Schweizer Hausbesitzer zu einen Fix-Preis von 30‘000 Franken einen Dachstock zu bauen. Niemand kann wissen (geschweige denn kontrollieren), ob für diesen Dachdecker nach getaner Arbeit ein Stundenlohn von 100 Franken oder 10 Franken resultiert.

    Systematischer Missbrauch ermöglicht
    Der «Missbrauch» ist rechtlich gesehen gar kein Missbrauch, sondern er ist Teil des Systems. Es ist z.B. bei der Personenfreizügigkeit auch auf einfachste Art und Weise möglich, in der Schweiz eine juristische Person (z.B. eine GmbH) zu gründen, womit es faktisch verunmöglicht wird, zu regeln, zu welchen Bedingungen die Leute arbeiten.

    Möglich – und völlig legal – ist z.B. auch, via eine eben gegründete GmbH einen 64-jährigen Mann oder eine 63-jährige Frau anzustellen, um diesen nach wenigen Monaten (Eintritt ins Pensionsalter am 65. resp. 64. Geburtstag) genau dieselben lebenslangen Ergänzungsleistungen zu verschaffen, wie sie Schweizerinnen und Schweizer erhalten, die 40 Jahre hier gearbeitet haben. Wer dieses System ausnützt, kann – wie erwähnt völlig legal – lebenslang das Zehnfache an Rente beziehen, als er je mit seiner Arbeit in seinem Herkunftsland verdient hat (z.B. in Rumänien oder Bulgarien liegt das Lohn-Niveau an vielen Orten zehnmal tiefer als bei uns; oder sogar noch tiefer).

    Der Bundesrat weiss, dass es Lohn-Nivellierung nach unten geben wird
    Niemand auf dieser Welt kann die Grund-Prinzipien der Ökonomie und der Logik ausser Kraft setzen. Personenfreizügigkeit ist immer und überall zu Ungunsten des Landes, welches das Glück hat, wohlhabend(er) zu sein. Wer etwas anderes sagt, könnte gerade so gut behaupten, Wasser fliesse aufwärts.

    Auch die Vertreter des Bundesrats wissen das selbstverständlich. Ich habe im Nationalrat miterlebt, wie der Bundesrat am Mikrofon wörtlich gesagt hat, das «schleckt keine Geiss weg. Das ist klar, das gibt eine Nivellierung nach unten (…). Tendenziell wird die Arbeitslosigkeit steigen.»

    Solche Aussagen habe ich in den letzten Wochen aus bundesrätlichem Mund nie vernommen!

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